Gehen oder bleiben?

Donnerstag, 13. August 2020 | 

Schlagwörter »  |  Thema: Allgemein, Studiengänge

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Diese Frage stellte sich Studierenden während der Coronakrise (insbesondere der internationalen Studiengänge des Frankreich-Zentrums) gleich in mehrfacher Hinsicht. Je eine Studentin der beiden aktuell am Frankreich-Zentrum eingeschriebenen Masterjahrgänge berichten von ihren Erfahrungen, den Ängsten und Befürchtungen, die ihren Alltag während der Krise begleitet haben, aber auch von den unerwartet positiven Nebenwirkungen.

Der 16. März 2020 wird sich wohl auch langfristig ins kollektive französische Gedächtnis eingebrannt haben: Es ist der Tag, an dem der französische Präsident Emmanuel Macron die Ausgangssperre, das confinement, verkündete, geschuldet dem „Krieg“ im Kampf gegen den unsichtbaren Feind, das Coronavirus und die dadurch verursachte Lungenkrankheit COVID-19. Einen Tag später folgte auch die zu diesem Zeitpunkt schon ungeduldig erwartete Ansprache der deutschen Bundeskanzlerin, die zwar auf Kriegsrhetorik und die Durchsetzung eines harten Lockdowns verzichtete, aber (nicht zuletzt mit Blick auf die teils verheerende Lage im Nachbarland) auch den deutschen Bundesbürger*innen unmissverständlich klarmachte: „Diese Situation ist ernst und sie ist offen.“

Mittwoch, 18. März 2020: Janet Ladwig, 24, Masterstudentin im ersten Jahr des Studiengangs „Internationale Wirtschaftsbeziehungen“, kehrt aus einem Normandie-Urlaub in den Semesterferien nach Deutschland zurück. Um 8 Uhr morgens sitzt sie im menschenleeren Zug, der sie zu ihren Eltern ins nordrhein-westfälische Hagen bringt. Dass sie von dort aus für mehrere Monate, schließlich fast die gesamte Dauer des Sommersemesters nicht an ihren Studienort, nach Freiburg, zurückkehren wird, ahnt sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Mittwoch, 18. März 2020: Juliane Ostermoor, 23, Studentin im zweiten Masterjahr des Studiengangs „Interkulturelle Studien“, ist ebenfalls auf der Rückreise an ihren Studienort, die südfranzösische Großstadt Lyon, sie sitzt in einem der letzten Flieger, die Reisende noch auf „normalem“ Weg von Wien nach Frankreich transportieren. Kurz nachdem sie in Frankreich angekommen ist, „war der Flughafen dicht“.

Dass die Generation, die nach 1990 und so in ein Europa der offenen Grenzen hineingeboren wurde, mit einer solchen Wucht und Geschwindigkeit vor geschlossenen Grenzen stehen würde, das hätte wohl noch im Januar dieses Jahres niemand für möglich gehalten.

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Und die Länder, in die die beiden Studentinnen nach ihrem Semesterferien-Urlaub zurückkehren, befinden sich in der Tat im bis dahin in diesen Ausmaßen ungekannten Ausnahmezustand: „Da waren 100 Meter lange Schlangen vor den Supermärkten. Ich dachte, die Welt geht unter“, berichtet Juliane. Und Janet, die sich nicht nur auf das Sommersemester in Freiburg, sondern insbesondere auf das zweite Masterjahr in Paris gefreut hatte, verliert, während sie, gestrandet im elterlichen Wohnzimmer, die Nachrichten verfolgt, zeitweise die Hoffnung, den binationalen Studiengang tatsächlich in beiden Ländern vor Ort erleben zu können: „Zwischendurch dachten wir, dass wir nicht ins Ausland gehen können.“

Als langsam aber sehr sicher klar wird, dass die Pandemie allen irrationalen Hoffnungen zum Trotz auch in Europa nicht binnen weniger Tage in den Griff zu kriegen sein wird, die Bibliotheken von einem Tag auf den anderen ihre Pforten schließen, die Studierendenwohnheime in Lyon evakuiert und ihre Parkplätze abgeriegelt werden und in Freiburg die Universitätsgebäude nicht mehr zugänglich sind, die Universitäten sich hopplahopp auf ein digitales Semester in virtuellen Räumen vorbereiten, die (akademische) Welt im wahrsten Sinne Kopf steht, müssen weitreichende Entscheidungen getroffen werden.

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Juliane und zwei ihrer deutschen Kommilitoninnen desselben Studiengangs wird schnell klar, dass sie die Situation nur mit vereinten Kräften bewältigen können: Sie entschließen sich, noch möglichst viele Materialien aus der Bibliothek zu entleihen, ihre Arbeitssachen für die im zweiten Masterjahr anstehenden mémoires 2 zu packen und mit jeweils einem Koffer, der das Notwendigste enthält, zu dritt in eine WG zu ziehen. Eine Wohnung im Zentrum von Lyon, ohne Balkon, ohne nennenswerte Grünanlage in der Nachbarschaft. Bei täglich jeweils nur einer Stunde im Freien (und das wiederum nur mit ausgefüllter attestation zur Hand, „Muttizettel“, wie Juliane sie liebevoll nennt) im Radius von gerade einmal einem Kilometer und ohne Begleitung, machen sich die Nachteile dieser Wohnlage schnell bemerkbar.

„Im confinement hat uns gerettet, dass wir zusammen waren und einen gemeinsamen Tagesablauf hatten“, so Juliane. Andernfalls seien sie höchstwahrscheinlich alle vereinsamt. Alle drei haben tagsüber an ihren Arbeiten geschrieben, abends gab es selbst kreierte cuisine française und das ein oder andere Glas vin rouge. Die Herausforderungen, unter denen sowohl das universitäre als auch das soziale Leben bewältigt werden müssen, bleiben trotz des in der Not noch stärker gewordenen Zusammenhalts enorm. Nicht zuletzt brechen durch die Isolation auch die geknüpften Kontakte zu französischen Studierenden weitestgehend ab. „Wir als Studierende in einem binationalen Programm fallen durch alle Raster.“ – Bei Rückholaktionen wurde in den Medien von Urlaubern gesprochen, teilweise auch von Austauschstudierenden. Aber sowohl auf (inter-)nationaler als auch auf universitärer Ebene stellt sich in diesem speziellen Fall ganz offensichtlich in mehreren Hinsichten die Frage der Zuständigkeit.

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Und nach Wochen der immer wieder verlängerten Ausgangssperre kreisen immer mehr Fragen und Unsicherheiten in den Köpfen der drei Studentinnen: Was passiert, wenn eine von uns tatsächlich krank wird? Wann werden wir Familie und Freunde in Deutschland wiedersehen? Und – die vielleicht drängendste Frage angesichts der medial verbreiteten Horrorszenarien an den Landesgrenzen: Kommen wir nach Hause?

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Für Janet stellen sich diese Fragen im Anschluss an ihre Rückkehr nach Deutschland in die entgegengesetzte Richtung: Sie ist unsicher, ob sie Deutschland so bald wieder wird verlassen können. Im März ist sie, so wie alle ihre Kommiliton*innen, mit der Suche nach dem mehrmonatigen, im Studienverlaufsplan vorgesehenen Praktikum beschäftigt. Und insbesondere diese Phase ist von großen Unsicherheiten und Zukunftsängsten geprägt: Die ohnehin stressige Suche nach einem Praktikumsplatz erscheint zeitweise vollkommen aussichtslos, immer mehr französische Unternehmen streichen ihre Kontingente, erteilen Absagen. Auch wenn mittlerweile tatsächlich alle IWB-Studierenden einen Praktikumsplatz sicher haben und sich auf das zweite Masterjahr in Frankreich vorbereiten, sind viele Unwägbarkeiten nach wie vor Teil der „neuen Normalität“ der Studierenden: „Wir wissen immer noch nicht, wann unser Semester in Paris letztendlich beginnen wird und wie es sich dann im Einzelnen abspielt“, erzählt Janet.

Während Juliane ihre Freunde und Familie in Deutschland mehrere Monate nicht zu Gesicht bekommen hat, wird Janet nach dem 18. März ihren Freund, der in Frankreich wohnt, auf unbestimmte Zeit (letzten Endes über zwei Monate) nicht sehen. Während Juliane und ihre Kommilitoninnen die frisch geknüpften Kontakte zu französischen Studierenden durch die Krise verlieren, werden Janet und ihre Kommiliton*innen in Freiburg durch das Virus um die zweite Hälfte des gemeinsamen Studienjahrs betrogen, bevor sich im zweiten Masterjahr ihre Wege trennen werden: „Wir haben uns sehr auf den Frühling und Sommer in Freiburg gefreut und hätten das gemeinsame Jahr gut gebrauchen können. Wir sind so eine tolle Gruppe, die gerade durch viele Unterschiede gewinnt.“ Stattdessen verbringen die meisten Studierenden ihres Jahrgangs die akuteste Krisenzeit bei ihren Familien, das soziale Leben innerhalb des Studiengangs verlagert sich – wie vieles – in digitale Räume: „Die Kommunikation hat vor allem über WhatsApp-Gruppen stattgefunden.“ Aber auch in Deutschland ist die Kommunikation von großer Solidarität unter den Studierenden geprägt, man erinnert sich gegenseitig an Abgabefristen und leitet sich kurzfristig die Passwörter für Zoom-Konferenzen weiter.

Schnelle Kommunikation wird umso mehr gebraucht angesichts der Herausforderungen, die die digitalisierte Lehre mit sich bringt, die sich manchmal eher als digitale Leere darstellt: „In manchen Veranstaltungen hat es einige Zeit gedauert, bis wir Zoom richtig zum Laufen gebracht haben“, so Janet. Gleichzeitig ist sie aber froh, dass die Möglichkeit, trotz allem weiterstudieren zu können, auch während der Corona-Krise bestand und besteht: „Die meisten Profs geben sich wirklich große Mühe, die Studierenden einzubeziehen. Und die sind präsent und geben ihr Bestes.“ Natürlich ist das Studium über den Bildschirm, wie alles Neue, Gewohnheitssache; und obwohl, wie Janet berichtet, sogar Gruppenarbeit über digitale Plattformen erstaunlich gut funktioniert, weil alles viel flexibler ist, wird es vermutlich dabei bleiben, dass der wirklich persönliche Kontakt fehlt – wohl auch im kommenden Semester, für das bereits digitale Lehre angekündigt ist. Insbesondere dann, wenn man Professor*innen noch nie real getroffen hat und sie ausschließlich über den Bildschirm kennt.

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Für beide, Juliane und Janet, gab es einen vorläufigen glücklichen Ausgang aus der akuten Krise: Juliane und ihre Mitbewohnerinnen sind mittlerweile noch einmal nach Freiburg zurückgekommen und sie steht kurz vor der Abgabe ihrer Masterarbeit, im Herbst wird sie ein Praktikum in Hamburg anschließen. Und Janet, für die Klausurenphase und unter allgemein gelockerten Bedingungen wieder zurück im sommerlichen Freiburg, hat letztendlich nicht nur eine Zusage für ihr Traumpraktikum in Paris sicher, sondern auch einen der begehrten Wohnheimplätze in der Pariser Cité U: Der Auslandsaufenthalt scheint möglich. Dennoch haben beide die Ereignisse der letzten Monate noch lange nicht vergessen. Das Gefühl, sich in Europa in immerwährender Sicherheit wiegen zu können, dürfte es so nicht mehr geben.

Die Pandemie hat nicht nur das Studierendenleben durcheinandergewirbelt, sie hat auch das Vertrauen der Studierenden in Europa, sowohl in dessen Verwaltungsapparat als auch in seinen Geist, die europäische Idee, grundlegend geschwächt, auch in die Deutsch-Französische Freundschaft. Umso wichtiger wird es gerade in Zukunft sein, auch unter erschwerten Bedingungen Zusammenhalt zu wahren, Solidarität zu zeigen, Grenzgänger*innen, wie es die Studierenden am Frankreich-Zentrum sind, auch in schwierigen Zeiten eine Perspektive zu geben. Damit der deutsch-französische Motor nicht ins Stocken gerät, damit der europäische Geist auch und gerade in Krisenzeiten mit Leben gefüllt wird.

Ein Beitrag von Rebecca Junglas.

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